Warum habe ich meine Muttersprache vergessen?

Ich wurde in einem kleinen Dorf in Ost-Anatolien geboren. Wir sprachen dort nur mit unserer Muttersprache und sie heißt “Zazaki“. Diese Sprache gehört zur Zaza-Volksgruppe. Die meisten Zaza verwenden auch die Sprachbezeichnungen “Dımılki“ und “Kırmancki“. Das Zazaki ist eine in Ost-Anatolien, zwischen den Quellflüssen des Euphrat und Tigris beheimatete Sprache. Sie gehört der nordwestiranischen Gruppe des iranischen Sprachzweiges der indo-europäischen Sprachfamilie an.

In unserem Dorf gab es keine Schule. Mit sieben Jahren ging ich zur Schule ins Nachbardorf. Dort traf ich eine neue Sprache: „Türkisch.“ Bis dahin konnte ich wirklich kein Wort Türkisch. Am ersten Tag fühlte ich mich wie ein wildes Tier, das sie aus einem Wald geholt haben. Nun gab es für mich eine neue Sprache. Ich sprach meine Muttersprache nur im Dorf. Tag für Tag kommunizierte ich immer seltener in Zaza-Sprache. Trotz allem vergaß ich nicht in meinem Dorf meine Muttersprache zu sprechen.

Gleichzeitig war dieses Dorf, in welches sich die Schule befand das Dorf meiner Großeltern. Daher kannte ich fast die ganze Dorfbevölkerung. Mit vielen aus diesem Dorf war ich befreundet und verwandt. Meine Ausbildungssprache war Türkisch aber mein Alltag war von Zazaisch geprägt. In dieser Hinsicht erlebte ich, zu mindest in der Volksschulzeit keine gewaltigen Veränderungen.

Dann ging mein Schulleben ab der vierten Klasse im Internat weiter. Meine Muttersprache war im Internat absolut verboten! Wie durch ein Messer getrennt, wurde ich nun von meinem Alltag auch getrennt. Im Internat ist der Alltag Schule und Schule ist gleich Türkisch. Dort werde ich wiedergeboren werden. Die kleine eigene Welt des Internates stelle mein ganzes Leben auf den Kopf. Ich existierte nun mit einer neuen Persönlichkeit. Sechs lange Jahre musste ich das Gelöbnis: “Ich bin Türke, aufrichtig und fleißig,…“ ablegen. Essen, Bette, Uniforme, ja sogar bis auf die Unterwäsche…

Alles hat sich geändert! Die Joghurtbecher, die ich zum Trinken bekam, waren für mich wie Spülwasser und nach diesem Kichererbsen Gericht, das ich essen musste, öfters habe ich mich danach übergeben. Hingegen liebte ich den Geschmack von Oliven und Käse. Als meine Freunde und ich wieder unsere Dörfer besuchten, spielten wir die Rolle des Ausbildners für die Ungebildeten und die Nicht-türkisch-Sprechenden. Je mehr die Internatskinder Türkisch sprachen, desto mehr sprach auch die Dorfbevölkerung diese Sprache.

Das Regime nutzte uns als Mittel für ihre Assimilationspolitik aus. Alles war natürlich nicht schlecht, aber so oder so hatte für mich ein ganz anderes Leben angefangen. Man nahm mir meine ethnische Identität, meine Muttersprache und meinen eigene Glauben. In einer neuen Mentalität hätte ich alles hilflos vergessen müssen. Lediglich die türkische Geschichte, Kultur, Sprache, Kunst, Musik und Tradition durften übernommen werden. Nach dem Austritt aus dem Internat ließ ich dort, wie es unter diesen Umständen anzunehmen ist, meine eigene Identitäten und Muttersprache zurück.

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Dieser Artikel wurde zuerst in Anthologie “Anima – Lyrik und Prosa“ veröffentlicht. Siehe: Anima – Lyrik und Prosa, Books on Demand Verlag, 2018, S. 174-176

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